Westside: Erlebnis-Shopping nach Berner Art

Ab heute geht Bern baden. So will es die regionale Werbung fürs Einkaufs- und Freizeitzentrum Westside, welches Wasservergnügen in neuer Dimension verheisst. Der Wellness- und Konsumtempel mit der kühnen Architektur von Daniel Libeskind öffnet seine Tore just in der Woche, da Banken reihenweise kollabieren und die halbe Welt ums Ersparte bangt.

Die Superlative, die Bern mit Westside bietet, stehen im Kontrast zum behäbigen Charakter der Stadt: Gehobenes Shopping in 55 Geschäften, exquisites Erlebnisbad und Spa, Kino in elf Sälen, Hotel und Altersresidenz - und alles verbunden durch eine kosmopolitische architektonische Handschrift. Sowas zackig Gewagtes gibt es in der ganzen Schweiz nicht, und weit über ihre Grenzen hinaus wird das Renommée von Daniel Libeskind (Jüdisches Museum Berlin, Ground Zero New York) Besucher anziehen.

Von Livenet auf den "Konsumtempel" angesprochen, hebt der Stararchitekt, der in Bern sein erstes Einkaufszentrum realisiert hat, das Zueinander von Kommerz und Kultur hervor: Wie in den Laubengängen der Zähringerstadt, wie auf einem antiken Marktplatz, könnten sich hier Menschen begegnen, "Freunde treffen, einfach sein…"

[ Swissinfo-Interview mit Daniel Libeskind ]

Architektonische Superlative im Grünen

Als Willensleistung am Anfang des neuen Jahrhunderts ist das Westside Balsam auf die Seelen der Berner, deren Region kürzlich von den Raumplanern des Bundes abgestuft wurde. Tatsächlich verschlingt das Zentrum, aufwendig über die Autobahn gebaut, wenig Land. Mit seiner Holzverkleidung und den schrägen Glasbalken markiert es dem, der sich Bern auf der Autobahn von Westen nähert, Urbanität ohne Betonmasse, zum Ländlichen hin offene Weltläufigkeit.

Das Zentrum, mit ausgeklügelter Haustechnik und minergisch gebaut, soll zur Hälfte mit Holzschnitzeln aus der Region beheizt werden, was seine Betreiber verführt, die CO2-Ersparnis zu rühmen. Als ob es die Öko-Bilanz der Region verbessern würde.

[ Das Architekturkonzept von Westside ]

Tatsächlich hat das Westside einen eigenen Bahnhof, acht Minuten vom Stadtzentrum, und künftig auch einen Tramanschluss, doch richtet es sich an Kunden, die vorzugsweise mit dem Auto unterwegs sind. "Der ideale Besucher im Sinne der Betreiber reist früh an, kauft ein, geht dann in das ‚Bernaqua' genannte Freizeit- und Erlebnisbad, stärkt sich anschliessend im Food-Court und beschliesst seinen Besuch in einem der Kinosäle" (NZZ).

Je eher sich der Besucher verhält, wie es die Betreiber wünschen, desto häufiger dürfte er und sie den Privatwagen benützen. Für Bahnfahrer hält das Zentrum gekühlte Schliessfächer bereit: Die eingekauften Sushi verderben nicht, während sich Madame im Spa entspannt.

Oberes Segment anvisiert

Auch wenn Westside nicht (wie Kritiker befürchten) eine neue Runde im Ladensterben einläutet, werden seine Läden und Boutiquen doch Anbieter weitherum unter Druck setzen. Den Berner Stadtpräsidenten Alexander Tschäppät kümmerts nicht: Konkurrenz belebe das Geschäft und die Berner Innenstadt müsse ihre Stärken (Kultur, UNESCO-Weltkulturerbe) ausspielen, meint der zukunftsfrohe SP-Politiker gegenüber Livenet bündig.

Laut Max Meyer, Präsident Verwaltung der Genossenschaft Migros Aare, richtet sich Westside mit einem grossen Globus-Warenhaus und einem MM-Supermarkt auf ein anderes Käufersegment aus als das Shoppyland Schönbühl nördlich von Bern (MMM, Spezialmärkte und Manor).

Aufgrund des Zonenplans musste die Migros die Altersresidenz senecasita als Teil des Zentrums bauen, wenige Gehminuten von den Shops. Die 95 Wohnungen und 20 Pflegezimmer sollen nächstes Jahr bezogen werden; sie weisen Westside als Komplex des 21. Jahrhunderts aus.

In einer anderen Beziehung erscheint er hingegen als alt-modern: Die Hüter des Kommerzes geben der Religion keinen Raum, sehen den Menschen nur als Kunden, bieten für immaterielle Bedürfnisse bloss käufliche Erlebniswelten. Im Unterschied zum 2007 eröffneten Sihlcity bei Zürich hat Westside keine Kirche, keinen Raum der Stille.

[ Warum das Westside ohne Kirche auskommt ]

Im Thai-Spa die Seele baumeln lassen

1,2 Millionen Menschen können Westside innert 45 Minuten erreichen. Die Genossenschaft Migros Aare, die infolge des anspruchsvollen Konzepts von Libeskind eine halbe Milliarde Franken investiert hat, blickt über die Region hinaus: Das neue Zentrum sucht gutsituierte Kundschaft in der ganzen Schweiz. Die Shops und Bernaqua locken Mode- und Wellness-bewusste Romands und - in Konkurrenz zum Ostschweizer Erlebnisbad alpamare - erlebnishungrige Zürcher.

Sie können laut Pressetext "im Flussbad abtauchen, in einer der klimatisierten Saunen entspannen, sich eine Runde im Wildwassercanyon treiben lassen, nach dem Fitness asiatische Spa-Rituale geniessen oder die längsten gedeckten Rutschen der Schweiz testen". Der Spass unter dem bezeichnenden Motto "Abschalten vom Alltag und Auftanken für die Seele" hat seinen Preis: Erwachsene zahlen für Sauna und Erlebnisbad bis (21/2 Stunden) 40 Franken, Schulkinder 30 Franken. Jene, die auch schwimmen wollen, werden sich im grössten Bassin, dem Wellenbad, an 1,35 Meter Wassertiefe gewöhnen müssen…

Ökologische Augenwischerei?

Westside gibt dem geplanten Stadtteil Brünnen, mit dem die Beamtenstadt schon vor 40 Jahren nach Westen hin wachsen wollte, Schub. Nebenan sollen in den nächsten Jahren Wohnungen für 2600 Menschen entstehen. Während Bern mit den Chaoten der Reithalle im Zentrum endlose Mühe bekundet, wird nun einige Autominuten entfernt in lichten Hallen flaniert und konsumiert, gekauft und geplanscht.

Die Umweltauflagen der rot-grün-regierten Hauptstadt führten dazu, dass Westside bloss 1275 Autoparkplätze bauen konnte, was Max Meyer hörbar bedauert, während er den riesigen Veloparkplatz erwähnt. Westside erwartet mit 23'500 m2 Verkaufsfläche täglich 10'000 Besucher - an Spitzentagen sind Staus absehbar. Kein Wunder, dass der Emmentaler Nationalrat Christian Waber, der mit besorgten Anwohnern bis vor Bundesgericht ging, um Westside zu verhindern, sich in seinen ökologischen Vorbehalten bestätigt sieht.

[ Ökologie ausgeblendet? ]

Zum Vergleich: Die Sihlcity bei Zürich, 2007 eröffnet und mit Tram erschlossen, zählte mit 41'000 m2 Verkaufsfläche im ersten Halbjahr 2008 durchschnittlich 19'000 Besucher pro Tag, denen 800 Parkplätze zur Verfügung standen. Das ‚alte' Glattzentrum an der Autobahn nach Winterthur (43'400 m2, 26'000 Besucher täglich) hat dagegen 4750 Parkplätze.

Wenn Westside nicht mit Grösse auftrumpfen kann, so doch in der Erlebnis-Kombination: "So etwas gibt es nirgends auf der Welt", sagt Libeskind - und er muss es ja wissen.

Webseite: www.westside.ch
Artikel zum Thema: Mehr fürs Auge – gut für die Seele?

Datum: 08.10.2008
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch